Begriffsklärung: Sinti, Roma und Reisende als vermeintliche „Zigeuner“
Im Folgenden soll die begriffliche Bestimmung der Sinti als auch Roma näher herausgearbeitet werden. Dafür ist es notwendig, die früher gängige Bezeichnung „Zigeuner“ im Kontext ihrer historischen Entstehung zu verstehen, und die kulturelle Identität als „Sinti“ oder „Roma“ im Prozess der begrifflichen Auseinandersetzung konkret greifbar zu machen.
Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass der Begriff „Zigeuner“ als stigmatische und diskriminierende Fremdbezeichnung, Angehörige der Sinti, Roma und Reisende unter vorgefertigt-tradierten Vorstellungen eines vermeidlichen „Z“ charakterisiert, und den Betroffenen damit eine Homogenität zugeschrieben wird, die weder kulturell, historisch noch gesellschaftlich existiert.
Es soll konkret darum gehen, den Begriff des „Zigeuners“ in seinen gesellschaftspolitischen, wissenschaftlichen und sprachlichen Dimensionen zu diskutieren, zu dekonstruieren und den Betroffenen die Deutungsmacht über ihre eigenen Identitäten zuzusprechen. Vor diesem Hintergrund ist Sprache nicht nur Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Werte und Normen, politischer Einstellungen und angenommener Stereotype und Stigmen. Die begriffliche Auseinandersetzung spiegelt hierbei den eigenen Emanzipationsprozess und die Integrität der eigenen kulturellen Zugehörigkeit wider. Mario Franz, Präsident des Niedersächsischen Verbandes deutscher Sinti schreibt hierzu:
„Im restlichen Europa tauchen Sinti durch ihre kleine Anzahl eher selten als Begriff auf und werden garnicht als Selbstständige angesehen oder wahrgenommen. Aber auch hier in Deutschland, der eigentlichen Heimat der meisten Sinti, wird es immer mehr zur Mode in den Medien sowie in der Politik die Sinti mit der Bezeichnung und Historie der Roma abzudecken.“1
Dabei halten sich bis in die heutige Zeit, auf der ganzen Welt und auch in Deutschland, Vorstellungen eines stereotypisch-vermeintlichen „Zigeunerwesens“. Während sich im deutschen Sprachraum seit dem frühen 15. Jahrhundert der Begriff „Zigeuner“ sprachlich durchsetzte2, entwickelten sich in nahezu ganz Europa eigene Sprachvarianten, wie „Gypsies“ (engl.), „Tsiganes“ (franz.), „Gitanos“ (span.), usw., die im Laufe der Jahrhunderte zu ausgrenzenden Zuschreibungen von Gruppen avancierten, und denen eine von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Lebensweise zugeschrieben wurde.3
1 Bündnis 90/Die Grünen (Hg.), Antiziganismus in Deutschland und Europa. Dokumentation des Fachgesprächs vom 04. September 2018 in Berlin, Berlin 2019, S. 31.
2 Vgl. Lausberg, Michael, Antiziganismus in Deutschland. Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, Marburg 2015, S. 17.
3 Vgl. Fings, Carola, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016, S. 14.
Die Debatte um Fremd- und Selbstbezeichnungen, kulturelle Klassifizierungen und Label in Bezug auf den Begriff „Zigeuner“ begann in Deutschland mit der Bürgerrechtsbewegung der 1970er und 80er Jahre im Kontext der Debatten um Rassismus und Antiziganismus4. Nachdem 1971 der erste „World Roma Congress“ in Orpington stattfand, verständigte man sich darauf, dass der Begriff „Zigeuner“ eine abwertende und diskriminierende Fremdbezeichnung darstellt.5
Trotz dessen war der Begriff „Zigeuner“ bis in die 1990er Jahre eine gängige Ausdrucksweise auch in den Dokumenten der Europäischen Union und ihrer Vorgängerinstitutionen, und wird teilweise noch heute immer wieder in Literatur, Wissenschaft und Medien weiterverwendet.6
In der Wissenschaft hatte sich in Anlehnung an Grellmanns Arbeiten die „Tsiganologie“ als eigenständige Fachdisziplin entwickelt7, die den Begriff in besonderer Weise normalisierte. Entgegen vieler „Tsiganologen“ und ihren pseudowissenschaftlichen Ansätzen, und entgegen der Argumentation von Baaske, Erchenbrecher und Schmid, die gerade in Niedersachsen für ihre Arbeiten bekannt waren, und die Annahme vertreten, der Begriff „Zigeuner“ sei ein Eigenbegriff und dabei auf das Protokoll aus dem Reichstag zu Lindau aus dem Jahre 1497 verweisen8, haben unzählige Historiker:innen, wie Michael Lausberg9, Anja Reuss10 und Karola Fings11 das Gegenteil belegt.
Auch Angehörige beider Gruppen selbst, verurteilen den Begriff als diskriminierende Fremdbezeichnung. So hat u.a. Petra Rosenberg, Sprecherin der deutschen Sinti, verdeutlicht, dass der Begriff „Zigeuner“ in den Sprachen Romanes und Romenes12, überhaupt nicht existiere.13
Reuss schreibt weiter, dass einige Angehörige sich „als Ergebnis jahrhundertelanger, staatlicher und gesellschaftlicher Etikettierung“ selten selbst als „Zigeuner“ bezeichnen würden, da sich der Begriff negativ auf das Selbstbild der Betroffenen auswirke14.
4 https://zentralrat.sintiundroma.de/sinti-und-roma-zigeuner/, Zugriff: 26.02.2025.
5 https://www.swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/841971-roma-demonstrieren-gegen-diskriminierung-100.html, Zugriff: 26.02.2025.
6 Vgl. Lausberg, Michael, Antiziganismus in Deutschland. Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, Marburg 2015, S. 19.
7 Vgl. Reuss, Anja, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015, S. 36.
8 Baaske, Reinhold & Schmid, Hans-Dieter, Die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit. Aus Niedersachsen nach Ausschwitz: Katalog zur Ausstellung des niedersächsischen Verbandes deutscher Sinti e.V., Bielefeld 2004, S. 13.
9 Vgl. Lausberg, Michael, Antiziganismus in Deutschland. Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, Marburg 2015, S. 17.
10 Vgl. Reuss, Anja, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015, S. 15.
11 Vgl. Fings, Carola, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016, S. 13.
12 „Romanes“: Sprache der Roma, „Romenes“: Sprache der Sinti.
13 Vgl. Reuss, Anja, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015, S. 15.
14 Ebd.
Bei der Quelle von Erchenbrecher & Co. handele es sich dabei vermutlich um ein Schriftlichkeits- und Lautenproblem, wie Meyer schreibt15. Sie stützt sich dabei v.a. auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse Schmuhls, der die Begriffe „Zeyginer“, „Ziginer“ oder „Zigeiner“ vom romanischen und slawischen Begriff „Cingari“/“Cigäwnär“ ableitet.
Selbstorganisationen, wie der Nds. Verband deutscher Sinti e.V.16 und der Zentralrat deutscher Sinti und Roma17 konnten die Ächtung des Begriffs dabei so weit durchsetzen, dass er zumindest aus dem offiziellen und medialen Sprachgebrauch zum größten Teil verschwunden ist.
Die Kritik bezieht sich dabei im Wesentlichen auf die Tatsache, dass der vermeintliche „Zigeuner“ eine fiktive Konstruktion gesellschaftlicher Projektionsmechanismen darstellt, unter der verschiedene Reisende und nicht Romanes-, bzw. Romenes-sprechende Gruppen gezählt werden, die kulturell keinen Sinti oder Roma zugehörig sind18. Als „ethnisierender“ Begriff kultureller Zugehörigkeit wird der Begriff allerdings ausschließlich auf Sinti und Roma bezogen19. Da der „Z“-Begriff konzeptuell in dieser Arbeit ausschließlich in Bezug der kulturellen Zugehörigkeit diskutiert wird, werden Reisende im weiteren Verlauf dieser Ausführung nicht weiter berücksichtigt.
Die aufgeführten Ressentiments und Vorurteile brandmarken den „Zigeuner“ als exotisch Fremden und Anderen20, und erzeugen bei den Betroffenen einen kontinuierlichen Assimilationsdruck, sowie die ständige Abwertung als „asozial“, „kriminell“ und „minderwertig“21. Auch andere Vorstellungen, wie die des „türkischen Spions“22, der „Hexe“ oder der „Wahrsagerin“23 kamen später hinzu.
Heute wird der Begriff mehrheitlich abgelehnt und ist überwiegend aus wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskursen verschwunden. An seine Stelle ist vermehrt die Bezeichnung Sinti und Roma getreten.
15 Vgl. Meyer, Gabi, Offizielles Erinnern und die Situation der Sinti und Roma in Deutschland. Konstanz 2012, S. 24.
16 Franz, Mario: Kein „Zigeunerleben“ mehr?. Bitte nie wieder so gedankenlos agieren, in: HAZ, 30.01.2025, S. 28.
17 Vgl. Fings, Carola, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016, S. 14.
18 Ebd., S. 15.
19 Ebd.
20 Vgl. Reuss, Anja, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015, S. 37.
21 Ebd., S. 33.
22 Vgl. Meyer, Gabi, Offizielles Erinnern und die Situation der Sinti und Roma in Deutschland, Konstanz 2012, S. 27.
23 Ebd., S. 20.
Sinti und Roma werden als Selbstbezeichnungen von beiden kulturellen Gemeinschaften anerkannt – die universelle Verwendung als einheitliches Begriffspaar „Sinti und Roma“ im Kontext kultureller Zugehörigkeit hingegen, verstärkt erneut Assoziationen homogener und stereotyper Fremdzuschreibungen.“24 Beide Gruppen unterscheiden sich in kulturellen, historischen als auch gesellschaftlichen Aspekten, und nehmen sich darüber hinaus als eigenständig war.25
Gleichzeitig werden sie im politischen Kontext gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung oft gemeinsam genannt, da viele der Communities sich gegenseitig solidarisch unterstützen und oft sehr ähnlichen Problemen ausgesetzt seien, sagt Mario Franz, Präsident des Niedersächsischen Verbandes deutscher Sinti26.
Die sprachwissenschaftliche Forschung verfolgte den Ursprung beider Gruppen bis nach Nordindien zurück27, aus dem Panjab und dem östlichen Pakistan28. Von dort seien sie im 9. und 10. Jahrhundert im Zuge der Islamisierung durch arabische Eroberer verjagt und verschleppt worden und flüchteten schließlich über zwei Hauptwanderwege nach Mitteleuropa – der eine über Griechenland und den Balkan, der andere über Armenien, Russland und Ostpolen.29
Die Gruppenidentitäten als Sinti, bzw. Roma entsprangen dabei dem indischen Kastensystem. Die unterschiedlichen Routen prägten die verschiedenen Communities durch ihre jeweils eigenen Sprachen, Kulturen und Geschichten der jeweiligen Dominanzgesellschaft.30 Da beide Gruppen den Umstand kontinuierlicher Verfolgung und Diskriminierung teilen, und deshalb gezwungen waren, immer wieder weiterzuziehen und eine neue Heimat zu suchen, lassen sich die Sprachen Romanes und Romenes für die Identitäten als besonders zentral herausstellen.
Das kulturelle Element der Mündlichkeit, dass über Generationen bewahrt wurde, stellt für viele Sinti als auch Roma, einen der wichtigsten Aspekte ihrer Zugehörigkeit dar.31
Die Bezeichnungen „Sinti“ und „Roma“ stehen schließlich für das Selbstverständnis und ihre Integrität als eigenständige Kulturen32. Die größte Gruppe stellt dabei die der Roma dar, die sich insgesamt in über 50 Kategorien und Unterkategorien unterteilen.33
24 Vgl. Reuss, Anja, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015, S. 16.
25 Bündnis 90/Die Grünen (Hg.), Antiziganismus in Deutschland und Europa. Dokumentation des Fachgesprächs vom 04. September 2018 in Berlin, Berlin 2019, S. 30.
26 Ebd.
27 Vgl. Lausberg, Michael, Antiziganismus in Deutschland. Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, Marburg 2015, S. 15.
28 Ebd., S. 21.
29 Ebd.
30 Ebd., S. 15.
31 Vgl. Fings, Carola, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016, S. 15.
32 Ebd., S. 12.
33 Ebd.
Die größte Roma-Gruppe bilden die Roma aus Ost- und Südosteuropa34, die als Arbeitsmigranten in den 1960er Jahren aus Mazedonien, Serbien und Bosnien nach Deutschland kamen35. Neben diesen gibt es noch weitere bekannte Roma-Gruppen in Europa, deren Sprachzweige und -dialekte unterschiedlich geprägt sind36.
Während die Situationen vieler Roma-Gruppen im Kontext neuzeitlicher Flucht- und Migrationsprozesse zu verstehen sind, sind Sinti in Deutschland und anderen nordwestlich-europäischen Staaten dabei überwiegend autochthon37, daher seit mehreren Generationen in Deutschland ansässig und bezeichnen sich selbst auch als „deutsche Sinti“38.
Die Selbstbezeichnung „Sinti“ taucht erstmals Ende des 18. Jahrhunderts in schriftlichen Quellen auf. Es ist hierbei in der aktuellen Forschungslage umstritten, ob Sinti als Unterkategorie der Roma zu verstehen sind39. Die Tatsache, dass Forschung in diesem Bereich fast ausschließlich von der Mehrheitsgesellschaft betrieben wurde, erklärt wiederkehrende Erklärungsmodelle, die Sinti als Untergruppe der Roma klassifizieren. Dies stehe entgegen der „Tatsache, dass die Ethnie der Roma sich nie als Sinti verstanden hat und ebenso wenig hat sich die Ethnie der Sinti sich jemals als Roma verstanden und tut es auch heute nicht“40, so Mario Franz.
Weil die Kultur der Sinti jedoch auf Mündlichkeit beruht, hat es sich als schwierig erwiesen, diese tradierten Überlieferungen der eigenen Geschichte wissenschaftlich einzubringen, wodurch das wissenschaftliche Narrativ von „Roma“ als übergeordnete Identität erneut die Deutungsmacht der Mehrheitsgesellschaft aufzeigt41.
Da ihre Ankunft im deutschen Raum bereits für 1407 belegt werden kann, also vor der Reichsgründung durch Bismarck 1871, sind sie in erster Linie vollwertige deutsche Staatsbürger und teilen als Minderheit mit der Mehrheitsgesellschaft eine mindestens 600-jährige gemeinsame Geschichte. So leben heute rund 80.000 bis 120.000 autochthone Sinti in Deutschland42, die als eine der vier deutschen Minderheiten offiziell anerkannt ist43.
Insgesamt, so schreibt Reemtsma, habe sich die kulturelle Zusammensetzung der Sinti und Roma in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland stark verändert44. Gab es schon seit dem 19. Jh. auch immer wieder vereinzelte Roma-Angehörige, die ebenfalls im deutschsprachigem Raum lebten und als Autochthone zu sehen sind, werden die migrierten Roma aus den verschiedenen zeitlichen Bewegungen seit den 1960er Jahren anteilig immer mehr und bringen eigene kulturelle Prägungen und Problematiken mit sich, die von den Sinti, als deutsche Staatsbürger:innen separat betrachtet werden müssen.
Schlussendlich ist festzuhalten, dass die Sinti in ihrem autochthonen deutschen Kontext, eine eigene, langwierige Geschichte in Deutschland haben, zu der in besonderer Weise Verfolgungs- und Diskriminierungserfahrungen zu zählen sind, die im Völkermord des 2. Weltkriegs kulminierten. Deutsche Sinti waren und sind kulturspezifisch und ihrer großen mehrheitlichen Anzahl nach, in besonderer Weise von den Auswirkungen des Nationalsozialismus betroffen.
In der aktuellen wissenschaftlichen Praxis fällt dabei auf, dass die meisten Forschenden auf Fremdbezeichnungen dieser Art mittlerweile verzichten und in ihren begrifflichen Auseinandersetzungen auch deutlich die Heterogenität und Vielfalt der Kulturgruppen postulieren,45 die Kulturzugehörigkeiten der Sinti und Roma dann aber doch homogen in den Ausarbeitungen dargestellt werden, bzw. die Bezeichnungen variabel und ohne Differenzierung ausgetauscht werden.
Die begriffliche Auseinandersetzung zeigt dabei deutlich den Einfluss mehrheitsgesellschaftlicher Fremdzuschreibungen und stellt die Sinti, als auch Roma für die weitere Untersuchung als eigenständige und unterschiedene kulturelle Identitäten heraus.
44 Vgl. Reemtsma, Katrin, Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart, München 1996, S. 59.
45 Vgl. Fings, Carola, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016, S. 13.